Braucht eine Führungskraft ein besonderes Charisma?
Es sind genau zwei Jahre vergangen, seit ich verstanden habe, warum Silkes Hände schwitzten, wenn sie vor ihrem Team stand und sprach. Der Zufall hatte uns zu Sitznachbarn im Flugzeug nach Berlin gemacht. Es war der 6-Uhr-Flug, und fast jeder versuchte, den anstehenden langen Tag mit ein bisschen zusätzlichem Schlaf zu verkürzen. Anwälte, Politiker, Vertriebler und Manager dösten vor sich hin oder ließen sich von der Stewardess ihre Kaffeebecher füllen. Silke rieb sich die Hände und holte den kleinen Mac aus der Tasche. Der Bildschirm präsentierte schnell das geöffnete Dokument, und ich schaute kurz neugierig drauf. Keine Excel-Tabellen und Tools waren da zu sehen, sondern ein Text: eine Ansprache an ihr Team. Die junge Frau schaute konzentriert auf das Dokument, dann schloss sie die Augen und ihre Lippen bewegten sich lautlos. So ging das eine ganze Weile. Augen auf und Text fixieren, Augen zu und lautlos sprechen. Sie lernte den Text auswendig! Ich war überrascht und sprach sie an, so, wie man es nur mit Unbekannten macht. Entweder reagieren diese dann mit Offenheit oder sie schließen höflich die Tür zu dir und bleiben verschlossen. Silke war von meiner Unterbrechung nicht genervt, sie wirkte eher erleichtert. Sie sprach mit einer enormen Offenheit, und ich hatte das Gefühl, dass sie mich persönlich kaum wahrnahm. Es hatte sich etwas in ihr aufgestaut, was sie bei dieser zufälligen Bekanntschaft loswerden konnte. Sie erzählte von ihrem Stress im Betrieb, den Teammitgliedern, dem Ziel, der Kritik, den Erwartungen von „oben“ … Sie redete ausdrucksvoll und emotional, schaute aber weiter gebannt auf ihren Bildschirm. Am Ende blickte sie mich nahezu erschrocken an. Ich reichte ihr meine rechte Hand und sagte leise: Danke, ich bin Nelly …
Ich war damals noch kein zertifizierter Coach, steckte mittendrin in der Weiterbildung dazu. Doch mein Bedürfnis, zu helfen, trieb mich an, einzugreifen. Ich wollte, dass diese junge Frau ihr Team selbstsicher und authentisch anspricht, dabei lächelt, ihre Gedanken leicht zum Ausdruck bringt und vom Team dafür Respekt und Anerkennung erntet. So kamen wir ins Gespräch. Ich lobte ihren spontanen Vortrag, den sie mir gerade eben so mitreißend gehalten hatte und bat sie, auch ihr Team mit dieser Begeisterung und Spontanität anzusprechen, anstatt mit einem auswendig gelernten Monolog.
Führen will gelernt sein!
Genau diesen Tipp hätte ich mir vor 25 Jahren selbst gewünscht, als ich plötzlich als Gründerin meiner eigenen Firma Führungskraft geworden war. Meine erste Teambesprechung war ein Desaster. Keiner teilte meine Freude, als ich die ersten bombastischen Umsatzergebnisse vorgetragen hatte. Im Gegenteil, fast alle kritisierten mich und verlangten gleich für dieses junge Unternehmen unrealistische Gehaltserhöhungen. Hinter vorgehaltener Hand lachten sie mich sogar wegen meiner Visionen zur Zukunft des Unternehmens aus. Mit gebrochenem Herzen war ich damals nach Hause geschlichen – überzeugt davon: Ich kann nicht führen. Das ist zu schmerzhaft!
Dann aber schaute ich wieder auf meine Gründung und sah: Ich musste etwas ändern. MICH! Visionen, Pläne, Ausdauer und Durchsetzungskraft hatte ich schließlich. Was mir fehlte, war die Führungsstärke. Genau diese Parallele entdeckte ich nun 25 Jahre später bei Silke. Sie lernte ihren Text auswendig und versprach sich davon eine reibungslose Kommunikation. Ich dagegen hatte damals nur Enthusiasmus und persönliche Freude wiedergegeben, jedoch ohne vorher Rahmenbedingungen transparent gemacht zu haben. Wir beide hatten etwas gemeinsam: Wir wussten zu Beginn unserer Führungskarriere nicht, wie man führt.
Führungsstärke zeigt man nicht mit „Command and Control“. Führungsstärke geht voran und berücksichtigt das Bedürfnis der zu Führenden nach Teilhabe, Stabilität und Sicherheit – geeint in dem Wunsch, bestimmte Gruppenziele zu erreichen.
Charismatisch führen
Wir sind uns einig, dass die größten Charismatiker nicht nur blitzschnell überzeugen, sondern Menschen auch dauerhaft in ihren Bann ziehen und zum geplanten Ziel bringen können. Für Silke war Charisma damals nur ein abstraktes Wort, da sie einer strengen, rein sachbezogenen Richtung folgte. Sie wollte sicher sprechen, die Aufgaben sachlich verteilen und die Früchte ihrer Arbeit ernten. Bei mir war es einst eher das Gegenteil: Ich hatte den Leuten eine verschwommene und selbst für mich unklare Richtung präsentiert, um am Ende die ersten Umsatzzahlen zu präsentieren und zu loben. Ein Fehler.
Charisma als Bestandteil unseres Führungsstils bedeutet, die Menschen mit unseren Ideen und Visionen zu überzeugen, das Team als einzelne Individuen in diese Visionen einzubinden und ihnen die Rahmenbedingungen zum Erreichen eines gemeinsamen Ziels deutlich zu kommunizieren. Jeder erfolgreiche Schritt, jedes erreichte Umsatzziel ist eine Teamleistung und jedes Mitglied des Teams sollte für seine Beteiligung geehrt und geschätzt werden.
Dein charismatischer Stil motiviert und inspiriert dein Team zu kreativen Gedanken und mutigen Handlungen. Dein Charisma schafft Transparenz und Vertrauen, es ermutigt deine Kollegen zu Innovationen. Entscheide schnell. Verbreite ein Gefühl der Sicherheit: Lass die Menschen mit Freude arbeiten. Gib ihnen Wärme und Unterstützung. Begrüße den Tag gemeinsam mit deinem Team und feiere jeden, der sich traut, einen Schritt weiter in seiner Entwicklung zu gehen. Denn die Entwicklung der anderen ist dein Beitrag als Mensch und als Führungskraft.
Nimm dir die Zeit zum echten Führen
Warum ist der Zeitfaktor wichtig? Es passiert nicht selten, dass wir Führung zwar als wesentliche Aufgabe verstehen, aber uns dennoch nicht genug Zeit zum Führen nehmen. Kein Wunder: Der Tag ist dynamisch, die Projekte sind zahlreich, woher soll man sich ausreichend Zeit für alles nehmen? Aber: Wir führen Menschen – und das erfordert vor allem eins: Kommunikation. Nicht nur in der Sache. Es gilt zunächst, auf allen Seiten zu verstehen, wie wir Ziel- und Zeitvorgaben beurteilen, welche Gefühle wir damit verbinden. Erst dann, wenn „mein Ziel“ zu „unser Ziel“ geworden ist, ist es gelungen, Menschen in einer Teamdynamik zu bündeln. Nur kurze Anweisungen zu geben, bedeutet hingegen, den Kommunikationsraum zu verkleinern. Geschieht das öfters und unvorbereitet, sollten wir uns nicht wundern, wenn eines Tages die Unzufriedenheit unseres Teams wie eine Lawine auf uns zurollt.
Ist die weibliche Führungsstärke anders?
Definitiv: Nein! Stärke ist Stärke, Prinzipien sind Prinzipien und Führung ist Führung.
In unseren heterogenen Teams wird Führungsstärke als charakterliche Kompetenz verstanden und nicht als Geschlechtsmerkmal. Dennoch gibt es Unterschiede, die nicht Traditionen, sondern Lebensumstände hervorrufen: Meine Teamleiterin Diana brachte einmal ihr Baby zu dem dringenden Termin der ISO-Zertifizierung mit. Präzision und Disziplin fehlten ihr nicht, sie war jedoch irgendwie achtsamer geworden. Wir haben die Kleine, einer nach dem anderen, auf den Armen gehalten, und die Einfühlsamkeit der Teamleiterin zu ihrem Kind schwappte wie eine warme Welle in die Teamatmosphäre. Den Zertifizierungsanforderungen konnten wir überzeugend gerecht werden, die Freude über die gemeinsame Leistung prägte das Ende dieser Prüfung. Fast ohne es zu merken, nahmen wir auch die Momente mit dem Kind der Teamleiterin mit nach Hause und fühlten uns noch stärker verbunden.
Charisma und Führungsstärke sind nicht geschlechtsspezifisch, dafür aber persönlich. Wir Menschen sind zum Glück unterschiedlich, und das prägt unseren individuellen Führungsstil. Das ist auch gut so, solange wir nicht vergessen, dass Kommunikation, Wertschätzung, Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Authentizität die Grundlage für eine gesunde und menschenorientierte Führung sind.
Am Ende zählt nur Eins: Wir alle sind Menschen!